1979: Geld - Das große Abenteuer
Wenn mich die Leute früher fragten, wie ich zur Börse gekommen bin, dann sagte ich ihnen, daß es damit zu tun gehabt hätte, daß ich für mein Leben gerne Eis gegessen habe (und es auch heute noch tue).
Als junger Schulbub im Alter von vielleicht 13 bis 14 Jahren fuhr ich in den Sommermonaten nach Unterrichtsschluß bei gutem Wetter gern zu einem italienischen Eiscafé, dessen Inhaber für seine reiche Auswahl an Eissorten stadtbekannt war. Meistens bestellte ich mir einen Jumbo-Eisbecher mit durchschnittlich 7-8 Kugeln verschiedener Eissorten. In unmittelbarer Nachbarschaft des Eiscafés befand sich eine Bankfiliale, und auf dem Weg nach Hause schlenderte ich dann zwangsläufig an dieser Bankfiliale vorbei, an der die neuesten Aktienkurse vom Tage auf einer Tafel im Schaufenster ausgehängt waren. Diese sah ich mir interessiert an und bestaunte die täglichen Veränderungen der Aktienkurse.
Obwohl diese Kursveränderungen im Vergleich zu dem, was man heute so gewohnt ist, wirklich nicht besonders groß waren, übten sie auf einen wie mich, der bislang nur das Sparbuch mit seinen damals 4 bis 5 Prozent Zinsen pro Jahr kannte, eine enorme Anziehungskraft aus. Hier konnte man in einer Woche so viel gewinnen wie mit dem Sparbuch in einem ganzen Jahr. Wenn man die richtigen Aktien kaufte. Das war doch interessant. Und überhaupt - warum fallen manche Aktien, während andere gleichzeitig gestiegen waren? Wieder andere kamen gar nicht vom Fleck. Ich musste unbedingt ergründen, was es damit auf sich hatte.
Ich begann nun regelmäßig die Wirtschaftsnachrichten der Tageszeitung zu studieren. Vieles, was es dort zu lesen gab, waren für mich noch böhmische Dörfer. Was zum Teufel ist denn der Unterschied zwischen Bilanzgewinn und Jahresergebnis? Und was heißt eigentlich "Cash Flow"? Und der Unterschied zwischen Nennwert und Kurswert einer Aktie?
Auch wenn ich nicht alles verstand, interessierte es mich doch brennend. Schon als Kind im Vorschulalter und in der Grundschule haben mich diejenigen Gesellschaftsspiele am meisten interessiert, bei denen es darum ging, ein möglichst großes Vermögen zu machen. Mangels geeigneter Mitspieler habe ich Monopoly mit mir alleine gespielt, wobei ich selbst vier verschiedene Mitspieler gleichzeitig simulierte. Schnell lernte ich, daß es darauf ankam, möglichst frühzeitig ein Monopol bei den Bahnhöfen zu bekommen, bevor irgend jemand überhaupt Häuser bauen konnte. Und bei den Straßen sollte man am besten zügig die hellblauen und orangefarbenen haben, denn diese hatten in Relation zum knappen Geld zu Beginn der Bauphase das beste Preis-/Leistungsverhältnis, mit dessen Hilfe man die Gegner mit ihren viel wertvolleren Straßen schnell in die Knie zwang. Später dann gründete ich mit einigen weiteren Klassenkameraden eine Monopoly-Liga, doch verloren diese schnell das Interesse, weil ich fast immer gewann.
Sehr beliebt war auch das Börsenspiel. Hier konnte man insgesamt in vier verschiedene Aktien investieren und deren Kurse anschließend mit diversen Spielkarten hoch- oder herunterbewegen, wobei man selbst durch geschickte Investitionen aus der ganzen Achterbahnfahrt der Kurse ein möglichst großes Vermögen machen musste. Was gab es noch alles für schöne Sachen…Öl-Magnat, Playboss, Die Große Auktion, Geld und Börse usw. Ich habe viele schon vergessen.
Im Jahre 1979 dann schenkte mir mein Onkel ein kleines Buch. Er dachte sich, der Bub interessiert sich doch immer so für Geldgeschichten, dann ist das vielleicht was für ihn: es war ein Paperback aus dem Bastei-Lübbe Verlag.
Titel: Geld - Das große Abenteuer.
Autor: André Kostolany.
Er ahnte gar nicht, was er damit angerichtet hatte.
Es ist nicht nur Kostolanys unterhaltsamem Erzählstil zu verdanken, daß ich den Inhalt dieses Buches aufgesogen habe wie ein Schwamm und es zu einer Art Bibel für mich wurde.
Was da alles für Sachen drinstanden, von denen ich noch nie gehört hatte. Leerverkäufe zum Beispiel. Man verkaufte Aktien, die man gar nicht besaß, um sie später billiger wieder zurückzukaufen und so an Kursstürzen zu verdienen. Genial!
Auch mit Anleihen konnte man spekulieren, nicht nur mit Aktien. Die brachten also nicht nur feste Zinsen jedes Jahr, sondern konnten auch kräftig im Kurs abstürzen, wenn der Schuldner an Bonität einbüßte.
Ich begann, mich durch den Zahlensalat aus dem Kursteil der Tageszeitung durchzuwühlen, was mich früher nie interessiert hatte, geschweige denn, daß ich was damit anzufangen wusste. Diese ganzen Kurszusätze, "b", "B", "G", "bG", "bBr", "T" - was bedeuteten die bloß alle?
Schließlich bezog ich die Tageszeitung im Abonnement, jedoch nur, weil ich an der täglichen Lektüre der Wirtschaftsnachrichten interessiert war und insbesondere an den täglichen Aktienkursen, die dort veröffentlicht wurden. Den Kursteil schnitt ich mit der Schere heraus und heftete ihn ab, um so eine kleine Kurshistorie zu erhalten. Die Kurse einiger weniger Aktien, die mich besonders interessierten, habe ich mit Bleistift und Lineal auf Kästchenpapier aufgetragen. Meine ersten Charts.
Historische Charts waren ja schön und gut, aber ich wollte es auch gerne etwas aktueller haben und nicht erst am nächsten Tag aus der Zeitung erfahren, was am Vortag passiert war. Doch wie sollte man an aktuelle Kursinformationen kommen? Die Kinder des Internets können sich die Welt von früher gar nicht mehr vorstellen. Es gab grundsätzlich zwei Möglichkeiten:
1. Man ging am Nachmittag zum Schaufenster irgendeiner Bankfiliale, in der die Aktienkurse des Tages ausgehängt wurden. Problem dabei: das geschah meist erst am späten Nachmittag. Wenn man Glück hatte, auch früher, aber Verlass war da nicht drauf.
2. Die Telefonhotline 1168 mit den Börsenkursen von vwd. Es gab zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Ansagen: morgens gegen 10:00 Uhr der Vorbörsenbericht (zur Information: der Börsenhandel startete um 10:30 Uhr in Frankfurt bzw. um 11:00 Uhr an den Regionalbörsen), dann gegen 11:00 Uhr die Eröffnungskurse und gegen 14:00 Uhr die Schlusskurse (Handelsschluss war um 13:30 Uhr). Gegen 16:00 Uhr wurden die Schlusskurse noch um den Nachbörsenbericht ergänzt.
Die Telefonhotline war das von mir am meisten genutzte aktuelle Informationsmedium bis Anfang der Neunziger Jahre hinein. Aber es gab da ja noch eine dritte Möglichkeit, wenn's wirklich mal ganz superaktuell sein musste. Ich wohnte zum Glück in einer Stadt mit einer dieser acht deutschen Regionalbörsen. Wenn es der schulische Stundenplan zuließ und der Unterricht rechtzeitig vorbei war, bin ich schnurstracks zur Börse geradelt und habe das Geschehen direkt vom Parkett aus verfolgt. Hier war alles realtime.
Es war eine recht kleine Regionalbörse ohne Besuchergalerie. Für die Börsenbesucher waren stattdessen im Börsensaal selbst am Rande ein paar Stühle aufgestellt. Das hatte den Vorteil, richtig nahe am Geschehen sein zu können. Hin und wieder ließ sich mal von der örtlichen Sparkasse oder einer Privatbank ein Seminarleiter blicken inklusive Gefolge, der den Bank-Azubis den Börsenhandel erklärte. Ich habe mich dann als "freiwilliger Azubi" unauffällig unter die Menge gemischt und mir auch alles schön erklären lassen. Was die Aufgaben der Akteure "vor und hinter der Schranke" sind, wie die Kurse ermittelt werden usw.
Das Beste allerdings war der Live-Handel auf dem Parkett. Dieser obercoole Händlerjargon. Das musste man einfach toll finden.
"Wie steht VW?"
"172 Aussuchen."
"100 an Dich."
"Von Dir."
Da hatte gerade jemand 100 VW-Stammaktien mit 172 DM pro Stück verkauft.
"Und Anilin?"
"99 'nhalb zu Rund."
"500 von Dir."
"An Dich."
Alles klar, was jetzt passieren würde? Richtig, der Kurs von BASF wurde mit 100 DM bezahlt notiert. "Anilin" war Händlerdeutsch für BASF (Badische Anilin- und Soda-Fabrik). "99 'nhalb zu Rund" hieß, der Kurs stand bei 99,50 Geld und 100 (= rund) DM Brief. "500 von Dir" hieß, daß der betreffende Händler 500 Stück zum Kurs von 100 DM pro Stück gekauft hatte. Somit war ein bezahlter Kurs von 100 DM zustande gekommen. Dieser wurde dann mittels Folienstift auf die Klarsichtfolie geschrieben, die auf einem Tageslichtprojektor lag, der die Kurse auf eine große weiße Wandfläche projizierte.
Für mich stand fest: so einer wie die da auf dem Börsenparkett wollte ich auch mal werden. Mindestens so einer wie Kostolany. Mein beruflicher Jugendtraum war geboren.
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